Die regenerative Genossenschaft

Die regenerative Genossenschaft – das ist kein Buzzword oder ein weiterer Versuch, alte Strukturen durch ein paar Ergänzungen zu etwas Neuem zu erklären. „Regenerativ“ ist in diesem Zusammenhang ganz im wörtlichen Sinn gemeint: wiederaufbauend, wiederbelebend. Das unterscheidet sie von Genossenschaften herkömmlichen Stils.

Die regenerative Genossenschaft (reGen) ist ein Geschäftsmodell mit dem Schwerpunkt auf die nachhaltige Entwicklung ihrer jeweiligen Region. Sie bewahrt nicht nur, sondern regeneriert die Natur ihrer Umgebung und die Qualität ihrer Gemeinschaft und begreift die individuelle Entwicklung und Gesundheit ihrer Mitglieder als zusätzliche relevante Bilanzwerte.

Das Wenige verwalten ist nicht genug

Seit Jahren ist Nachhaltigkeit ein Begriff, der mit aller Selbstverständlichkeit genannt wird, wenn es um sinnvolle Projekte und einen fairen Umgang mit der Natur geht. Gleichwohl drückt der Begriff in seiner ursprünglichen Bedeutung ja „nur“ die Einsicht aus, dass der Natur nicht mehr entnommen werden soll als nachwachsen kann.

Doch nutzen wir in Mitteleuropa bereits seit Jahrhunderten unsere Wälder, Böden und natürlichen Ressourcen so massiv, dass eine Stabilisierung auf einem niedrigen Niveau letztlich zu wenig ist. Also sollte ein ökologisch und betriebswirtschaftlich sinnvoller Ansatz nicht mehr die Stabilität des Wenigen sein, sondern die Wiederherstellung der Fülle, der Wiederaufbau von natürlichen Ressourcen und Nährstoffen in der Mitwelt. (Abgesehen davon nehmen Altlasten wie Müllkippen, verseuchte Böden oder versiegelte Flächen allein in Deutschland nach wie vor täglich um 60 Hektar zu.)

Führt man sich vor Augen, dass es 2000 Jahre dauert, bis 10 Zentimeter fruchtbarer Boden auf natürlichem Weg entstehen, wird schnell klar, dass auch bei unendlich vielen Nennungen des Wortes Nachhaltigkeit die Entwicklung noch immer in die falsche Richtung geht. Wie können wir die Richtung ändern? Wie können der Substanz-Aufbau und die Schaffung von lebendigen Werten zu einem verbindlichen Teil des ökonomischen Handelns der Menschheit werden?

Daseinsvorsorge selbst in die Hand nehmen

Um den Arbeitern in der Textilindustrie lebenswertere Umstände zu gewährleisten, wurden vor mehr als 175 Jahren in England Genossenschaften entwickelt. Sie entstanden aus der Idee, dass moralische und ökonomische Werte in einer Organisation gleichberechtigt sein sollten. Zugegeben waren moralische Werte zu Beginn der industriellen Revolution wenig mit dem Planeten und seinen Ressourcen verbunden, aber zumindest mit den Menschen und fairen Voraussetzungen, um mit ihrer harten Arbeit auch überleben zu können. Als Erfolgsmodell können Genossenschaften dennoch gut dienen, denn mittlerweile sind in über 100 Ländern rund um den Globus über 1 Milliarde Menschen in Genossenschaften organisiert. Mit über 20 Millionen Genossenschaftsmitgliedern stellt Deutschland – zumindest quantitativ – eine Hochburg des genossenschaftlichen Gedankengutes dar.

In den Sozialwissenschaften wurde jüngst untersucht, ob die Bevölkerung in Deutschland sich gut versorgt fühlt und ob dem Staat noch zugetraut wird, diese Versorgung auf einem guten Niveau für die kommenden Jahre sicherzustellen. Die Antwort lautet „nein“, denn an vielen Orten sehen sich Menschen ihre lokale Grundversorgung und Arbeitsplätze verlieren, und Krankenhäuser, Pflegeplätze und andere Themen der Daseinsvorsorge befinden sich dort, wo die Menschen in Dörfern und regionalen Gemeinschaften leben, eher im Rückzug. So stellte sich im Forschungskontext auch die Frage, ob Bürger gerne Teil der Zukunftsvorsorge sein und sich aktiver in die Lösung ihrer Existenzsicherung vor Ort einbringen möchten. Die Antwort lautete „ja“ – immer mehr Bürger können sich ein Engagement in solchen Daseinsvorsorge-Gemeinschaften vorstellen. Doch was die dringlichsten Themen der Daseinsvorsorge vor Ort sind, daran scheiden sich oft die Geister. Einigen ist die Versorgung mit Strom und Wärme am wichtigsten, anderen geht es um Betreuung von Senioren und um altersgerechten Wohnraum und wieder anderen geht es um regionale Lebensmittel und eine gesunde Natur um sie herum. Eine Daseinsvorsorge wäre für Bürger also dann ideal, wenn sie alle Themen der Gemeinschaft kennen und berücksichtigen würde, dennoch aber den Bedarf konkret deckt, der gerade am größten ist? „Harte“ Messgrößen wie Kilowattstunden oder Quadratmetern Wohnraum sind hierfür wenig geeignet.

Wieder mit Freude an gemeinsame Aufgaben gehen

Eine entscheidende „weiche“ Messgröße könnte das „gute Leben“ sein, das seit Jahrzehnten in der sozialwissenschaftlichen Diskussion als eine gute Basis für motiviertes Handeln gilt. Doch natürlich versteht jeder Mensch dieses gute Leben ein wenig anders. Für einen lebendigen Diskurs darüber bietet ein menschliches Grundbedürfnis eine ideale Grundlage: die Gemeinschaft.

Gemeinschaft war die Grundlage für unsere zivilisatorische Entwicklung als Gesellschaft, denn aus ihr entstanden Arbeitsteilung und die ersten schulischen und sozialen Strukturen. Könnte also das gemeinschaftliche Gespräch von Menschen aus der gleichen Nachbarschaft – einem Dorf oder einem Quartier – dazu beitragen, den zündenden Funken schlagen, um wieder mit Freude an gemeinsame Aufgaben zu gehen?

Dabei darf nicht nur über die Lösung von Problemen diskutiert werden. Wenn man nämlich eine Gemeinschaft nur für die Lösung eines Problems gründet, verschwindet der Antrieb für die Gemeinschaft, sobald das Problem gelöst ist. Es braucht also ein gemeinschaftliches Verständnis dafür, was man unter einem guten Leben versteht und wie dieses für die verschiedenen Gruppen einer regionalen Gemeinschaft umgesetzt werden kann. Dieser Dialog ist auch deshalb wichtig, weil er alle die Sorgen und Schwierigkeiten sichtbar macht, von denen Menschen auch dann nichts mehr wissen, wenn sie ganz nah beieinander wohnen.

Lebensdienlichkeit – ein verbindlicher Genossenschaftswert

Regenerative Genossenschaften entstehen aus dem Wunsch nach besseren Lebensbedingungen und aus dem Bewusstsein, dass jedes Mitglied der Gemeinschaft individuelle Werte und Wirksamkeit mitbringt. Wie sich die Gemeinschaft danach ausrichtet und welche Zwischenschritte für den gemeinsamen Erfolg richtig und sinnvoll sind, zeigt sich im aktuell gemeinsamen Handeln – auf diese Weise gibt es keinen angestrebten, normativen Endzustand, sondern immer den pragmatisch und gemeinschaftlich verabredeten nächsten Schritt.  

Hier greift nun das besondere Konzept der regenerativen Genossenschaft, bei der weiche Werte wie Lebensqualität, Lebensdienlichkeit und individuelle Potenzialentfaltung mit der gleichen Verbindlichkeit wie harte Werte angestrebt werden. In den meisten deutschen Genossenschaften steht die wirtschaftliche Förderung der Mitglieder im Fokus und damit eine rein ökonomische und materielle Ausrichtung. Diese ist zwar eine existenziell wichtige Grundlage für jede Geschäftsform, liefert aber nur eine begrenzt motivierende Grundlage für ein soziales und emotionales Gefüge. Das erkennt man derzeit auch an der Problematik vieler Energie- und Bürgergenossenschaften in Deutschland, bei der die Initiatoren große Schwierigkeiten haben, um neue Genossen und Nachfolger für die eigene Tätigkeit zu finden. Viele dieser Genossenschaften werden an größere Träger übergeben oder aufgelöst, obwohl sie eigentlich einen stabilen Mehrwert und Ertrag für ihre lokale Gemeinschaft liefern könnten.

Klassische Genossenschaften profitieren vom regenerativen Genossenschaftsimpuls

Kann die Umstellung auf eine regenerative Genossenschaft auch klassischen Genossenschaften und anderen Organisationsformen eine Perspektive bieten, um wiederbelebt und wirksamer zu werden?

Die Antwort darauf lautet ja, denn schon allein die Umstellung und der damit verbundene soziale Prozess ist eine Öffnung für neue Dialoge, Themen und damit Mitglieder. Viele Themen haben sich in den vergangenen Jahren in ihrer Dringlichkeit verdichtet und beeinflussen das Leben der Menschen zunehmend negativ. Das Vertrauen in Finanzmarktprodukte schwindet immer mehr und viele gesellschaftliche Versorgungslücken zeigen sich immer deutlicher.

Regeneration schafft eine neue Dimension der Wertschöpfung

Regeneration ist hier eine wichtige Zielmarke, denn sie nimmt den individuellen Wohlfühlfaktor genau so ernst wie ökologische und ökonomische Ziele. Sie schafft eine neue Dimension der Wertschöpfung, indem sie den Wiederaufbau natürlicher Lebensräume und individueller Potenzialentfaltung zu einem Streben zusammenführt und den Erfolg für alle Beteiligten sichtbar macht. Sie schafft neue Substanz im unmittelbaren Lebensumfeld der Menschen und ermöglicht eine Investition von Geld in Werte, die der Gemeinschaft eine stabile existenzielle Grundlage schaffen. Unabhängigkeit von internationalen Waren- und Energiequellen fördert die Souveränität und schafft eine starke lokale Identität. Lokale Lebensmittel, Bildungs- und Kulturangebote helfen den jungen Menschen dabei, sich neue Perspektiven in ihrer Heimatregion zu erschließen. Alte Menschen können sich ein würdevolles Alter in gewohnter Umgebung sichern und für Familien können sinnvolle Unterstützungen geschaffen werden. Eine regenerative Genossenschaft ist eine sehr gute Basis, um die Bedürfnisse und Bedarfe einer Gemeinschaft miteinander und füreinander zu decken. Möglichst viele Teile des lokalen Vermögens sind dann so eingesetzt, dass es für alle den bestmöglichen gemeinsamen Mehrwert schafft.

Denn aus kleinen, lokalen Gemeinschaften ist alles entstanden, was wir heute als globale Wirtschaft, Staaten oder Bündnisse kennen. Gemeinschaften sind die Herkunftsorte unserer modernen Industriekultur und wurden leider zu wenig dafür geehrt oder davor geschützt. Nun können sie der Geburtsort einer neuen, „(G)loKalen“ Bewegung werden, die das Beste aus beiden Welten miteinander verbindet und im vollen Bewusstsein globaler Zusammenhänge und Technologien das gute Leben auf lokaler Ebene ins Zentrum ihres Strebens setzt.